REMAINDER / Film / Director's Statement

Director's Statement

Wie ein nicht endendes Möbiusband beginnt und endet REMAINDER im selben Moment. Was dazwischen gezeigt wird, ist ein Ausschnitt des Lebens: Nachdem er sein Gedächtnis bei einem Unfall verloren hat, versucht ein junger Mann, sich selbst zu verstehen, indem er wie besessen in seine bruchstückhaft erinnerte Vergangenheit eintaucht – bis er vollständig von ihr eingenommen wird. Als wir Tom das erste Mal begegnen, wartet er an einem sonnigen Tag unruhig darauf, eine vielbefahrene Londoner Straße zu überqueren. Leger, aber teuer gekleidet, einen Trolly-Koffer ziehend und bewaffnet mit dem neuesten Smartphone ist er ein Abbild unserer Zeit: Immer in Bewegung, immer vernetzt, bereit, Raum und Zeit zu erobern, aber feststeckend im Verkehr und letztlich verloren im Unbedeutenden, Materiellen – Autos, Mitmenschen, Gegenstände – das ihm in den Weg kommt. Er überquert die Straße, aber vergisst seinen Koffer. Er dreht sich um und wird zu Boden geworfen von etwas, das direkt auf ihn fällt.

Worum geht es? Das Thema von Remainder ist die ambivalente Beziehung meiner Generation zur Realität: Wir haben alle technischen Mittel, diese in bewegten Pixeln und Ton einzufangen. Wir können sie aufnehmen und abspielen. Wir können darüber bloggen und finden dafür online sofort eine Bühne und ein weltweites Publikum. Aber während wir so der Realität Herr werden und sie in bewegte, stets zugängliche Datenhäppchen verpacken, verbringen wir eigentlich immer weniger Zeit in ihr. Ich, zum Beispiel, verbringe jeden Tag die meiste Zeit vor dem Computer. Wenn ich in Urlaub fahre und das Flugzeug landet, checke ich zuerst meine Emails. Für jemanden, der von dem nichtlinearen Raum des Computers und des Internets abhängig ist, mit seinen Copy-and-Paste-Funktionen, der sofortigen Verlinkung und den grenzenlosen Ebenen des Rückgängigmachens, für den kann die physische Welt undurchsichtig, isolierend und gnadenlos sein. Das Schlimmste an Toms Unfall ist, wie dieser ihn hilflos und bindungslos in dieser Welt stranden lässt – mit viel Geld, aber ohne Hilfsmittel, um zurechtzukommen. Er kann die Zusammenhänge nicht herstellen. Oder vielmehr, er ist besessen von Eckpunkten, deren Verbindungen ihm entgehen.

Der Psychiater Jacques Lacan spricht über Trauma als eine Begegnung mit dem Realen, das sich der Bezeichnung entzieht: Wenn die Worte versagen und wir uns in einer Situation befinden, die unaufhörlich Angst hervorruft, ohne dass wir die Möglichkeit haben, damit rational umzugehen. Während der Recherche für einen vorherigen Film interviewte ich Drohnenpiloten der US-Armee in Las Vegas. Diese jungen Männer verbringen bis zu zehn Stunden täglich damit, vor ihren Computern zu sitzen und Teil von Kampfeinsätzen auf der anderen Seite der Erde zu sein. Durch die hochmoderne Überwachungstechnologie, die an den Drohnen befestigt ist, können diese virtuellen Piloten jemandes Schuhmarke aus einer Höhe von 1500 Metern erkennen. Ohne gesehen oder gehört zu werden, können sie dieser Person für Stunden folgen, bis sie den Befehl erhalten, ihn oder sie auszulöschen – was sie per Knopfdruck erledigen können. Ihnen werden in jeder Hinsicht übermenschliche Kräfte gegeben, und sie sind vollkommen sicher an ihrem eintönigen, klimatisierten Container-Arbeitsplatz. Und dennoch leiden viele unter posttraumatischen Belastungsstörungen und „virtuellem Stress“. Sie sprechen über Alpträume mit Wesen, die sie nicht kontrollieren können. Kaum zu glauben, dass viele in ihrer knappen Freizeit bei stundenlangem Videospielen sowie Flugsimulatoren Entspannung suchen.

Vereinfacht gesagt ist Remainder das Portrait einer Person, die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, als sie am verletzlichsten ist: in einem Moment absoluter Kontrolle. Es teilt eine fast schon klassische Obsession mit der Geschichte des Ödipus: Erkenntnis geht mit Strafe einher. Diejenigen, die die Vergangenheit wirklich verstehen, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen. Zugegeben, das ist eine ziemlich harte Botschaft. Aber dann lässt sich auch wieder eine Menge Unterhaltung aus Toms Selbstverlust gewinnen, wenn er sich in seine private, nachgestellte Welt zurückzieht, die oft mit den gekünstelten Regeln unserer derzeitigen, öffentlichen zusammenprallt. In dem Film geht es außerdem um gesellschaftliche Aspekte. Dadurch, dass die Handlung in Brixton spielt, einem traditionell von Schwarzen und Einwanderern geprägten Viertel, impliziert Toms Handeln Gentrifizierung sowie die Folgen, die Macht und Kapital von außen für diesen Ort haben. Es ist kein Zufall, dass die Menschen, die wegziehen müssen, schwarz sind, genau wie die Person, die von der Polizei verdächtigt wird, seine Straftat begangen zu haben. Als Tom seine Opfer und Ängste in der Bank hinter sich lässt, akzeptiert er schließlich, dass die physische Welt zugleich erlösend und unglaubwürdig ist. Er stirbt als glücklicher Mann. Und wie ein moderner Phönix oder ein Videospiel-Avatar wird er für unser Vergnügen wiedergeboren.